Niedersächsisches Internatsgymnasium
Bad Harzburg

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Das Grundstück, auf dem sich heute das Niedersächsische Internatsgymnasium befindet, liegt noch heute im Kurviertel Bad Harzburgs. Um 1900 galt der Harzburger Westen als bevorzugtes Villenviertel. Carl Vieth, Besitzer des Hotels „Victoria“ in der Stadtmitte, rühmte in seinem mehrfach aufgelegten Reiseführer die gute Lage seines Hotels an der „Zugangsstraße zu Harzburg W., dem elegantesten Villenviertel Harzburgs (kurz das Harzburger Eldorado genannt), wo der Adel und die Haute finance ihr Domizil aufgeschlagen haben“. Als der Berliner Arzt Prof. Friedenthal nach dem Ersten Weltkrieg schräg gegenüber der Villa Wessel ein Sanatorium einrichtete, lobte er die ruhige Lage, „da Autos die Amsbergstraße vermeiden, der starken Steigung bei der Zufahrt wegen“. Hier gab es schon Anschluss an die Kanalisation, elektrisches Licht, Klosetts mit Wasserspülung – Luxus, der zu dieser Zeit längst nicht überall selbstverständlich war. Carl Wessel hatte sich also eine durchaus exquisite Lage für sein neues Haus ausgesucht.


Alte Postkarte zeigt das Villenviertel am Papenberg
Das Villenviertel am Papenberg vor dem Bau der Villa Wessel;
rechts oben die Villa Vogeler, das heutige Nebenhaus



Fotografie des Bauherrn Carl Wessel
Der Bauherr Carl Wessel

Der Bauherr Carl Wessel aus Bernburg an der Saale

Der Unternehmer Carl Wessel2, geboren 1842 in Barmen, machte nach dem Besuch der Realschule eine kaufmännische Lehre. Zwischen 1868 und 1879 unterhielt er in Duisburg Agenturen für den Vertrieb von Holzhäusern. 1880 kam Wessel als Generaldirektor der Deutschen Solvay-Werke nach Bernburg. Auch politisch war Wessel aktiv, schon in Duisburg war er Stadtverordneter gewesen. 1889 wurde er Stadtverordneter in Bernburg und seit 1903 war er Vorsteher der Stadtverordnetenversammlung.


Bernburg an der Saale liegt nicht nur im Zentrum Anhalts, heute Sachsen-Anhalts, sondern auch an einem Verkehrsknotenpunkt im Dreieck der Städte Magdeburg, Halle und Dessau. Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts vollzog sich im Bernburger Raum eine stürmische industrielle Entwicklung. Neben vielen kleineren Fabriken und Unternehmen standen die deutschen Solvay-Werke an erster Stelle - nach langwierigen Verhandlungen zwischen dem Magistrat und der Kommanditgesellschaft Solvay & Cie in Brüssel wurde 1881 in Bernburg mit dem Bau einer Sodafabrik begonnen, die sich zur größten Deutschlands entwickeln sollte. Solvay hatte Mitte des 19. Jahrhunderts ein Verfahren zur anorganischen Herstellung von Soda entwickelt und Bernburg bot beste Voraussetzungen: Kalkstein und Soda kamen in der Region vor, Braunkohle, die ebenfalls zur Sodaherstellung benötigt wird, konnte leicht herbeigeschafft werden, nachdem die lokalen Lagerstätten erschöpft waren.

Carl Wessel, der unter anderem die Bernburger Chemiefabrik in eine Aktiengesellschaft umwandelte, legte damit den Grundstein für einen heute weltweit agierenden Konzern. So kam er zu Reichtum, sodass er sich auch den Bau einer zweiten Villa in Bad Harzburg leisten konnte.

Von 1903 bis 1907 war er Mitglied des Deutschen Reichstags für die Nationalliberale Partei. Aus Dankbarkeit und Anerkennung seiner Verdienste wurde ihm 1907 die Ehrenbürgerschaft der Stadt Bernburg verliehen. Der Geehrte bedankte sich durch die Schenkung einer beträchtlichen Geldsumme für die Gründung einer nach ihm benannten Stiftung.

In den letzten Lebensjahren nutzte Wessel zusammen mit seiner Frau die Villa in Bad Harzburg als dauernden Wohnsitz. Am 16. Juni 1912 verstarb Carl Wessel. Zu seiner Beerdigung kam ein Sonderzug aus Bernburg mit der gesamten Belegschaft der Solvay­Werke nach Bad Harzburg. Alle Gaslaternen von der Amsbergstraße bis zum Friedhof an der Geismarstraße waren mit schwarzem Trauerflor geschmückt. Als Generaldirektor der deutschen Solvay-Werke hatte Wessel sich stets auch für die Belange der Stadt und deren Menschen eingesetzt. Noch heute existiert eine große Familiengrabstätte auf dem Bad Harzburger Friedhof.

Das Villenviertel am Papenberg mit der Villa Wessel und den beiden anderen Villen, die heute zum NIG gehören, um 1910
Das Villenviertel am Papenberg mit der Villa Wessel und den beiden anderen Villen, die heute zum NIG gehören, um 1910



Fotografie des Architekten Franz Schwechten
Der Architekt Franz Schwechten

Der Architekt der Villa Wessel: Franz Heinrich Schwechten

Franz Heinrich Schwechten wurde 1841 in Köln am Rhein geboren. Nach Besuch des Gymnasiums wurde er Schüler bei dem Kölner Architekten Carl Raschdorff, um von 1867 – 1869 sein Studium an der Berliner Bauakademie fortzusetzen. Es schloss sich eine rasche Karriere an. 1868 gewann er den Schinkelpreises für ein »Parlamentshaus für Preußen«. Mit dem Preisgeld konnte sich der erst 27-Jährige einen Studienaufenthalt in Italien von Oktober 1869 bis Juli 1870 finanzieren.


Von Juni 1871 bis Februar 1882 übernahm Schwechten die Leitung des Hochbaubüros der Berlin-Anhaltinischen Eisenbahngesellschaft. Dort begann er mit dem Bau des Anhalter Bahnhofes in Berlin, der ihn in der Fachwelt überregional bekannt macht.

Franz Schwechten wurde Mitglied der Berliner Akademie der Künste und begann ab 1885 seine Lehrtätigkeit an der Technischen Hochschule in Charlottenburg. Bis zu seiner Ernennung als Königlicher Baurat 1888 entwarf und überwachte er die Konstruktion der Schultheiss-Brauerei, der damaligen Berliner Philharmonie (heute zerstört) und des AEG-Apparatewerks in Berlin (nur noch teilweise erhalten).

1889 hat er die Gelegenheit, dem Kaiser seinen Entwurf für den Neubau des Kreisständehauses Teltow vorzulegen. Dieser genehmigte die Ausführung und war auch später bei der Einweihung 1891 zugegen. Mit diesem Zusammentreffen war für Schwechten die Basis für eine auftragsreiche Zukunft gelegt. Ab 1889 wurde er Mitglied der Akademie des Bauwesens. Sein sicher bekanntestes Bauwerk war die 1890 – 1895 errichtete neuromanische Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Berlin.

Auch der 1897 errichtete AEG-Fabrikeingang Brunnenstrasse in Berlin-Mitte/Wedding, das so genannte Beamtentor und das von 1899 – 1900 erbaute Kraftwerk Moabit zählen zu seinen Werken. 1902 – 1920 war er Leiter des Meisterateliers an der Königlichen Akademie der Künste in Charlottenburg. Januar 1904 wurde er zum Geheimen Baurat, 1906 zum Professor ernannt. Er war 1914 – 1918 Präsident der Akademie der Künste. Franz Heinz Schwechten starb am 11. August 1924.

Zu Lebzeiten wurde er von Kritikern gern als Leibarchitekt des Kaisers betitelt, doch erwarb er sich mit Denkmälern, Kirchen- und Friedhofsbauten einen überregionalen Ruf.



Die Villa

Nachdem Franz Heinrich Schwechten bereits 1887 – 1888 das Verwaltungsgebäude der deutschen Solvay-Werke in Bernburg geschaffen hatte, ebenso den Bau der Villa Wessel in Bernburg 1896, erhielt er auch den Planungsauftrag der Villa Wessel in Bad Harzburg 1899 – 1900.

Das Gelände an der Amsbergstraße war ursprünglich in Besitz des Konsuls H. H. Meier. Der Hotelbesitzer Friedrich Vogeler kaufte dem Konsul das Wiesenareal für einen Preis von 26.775 Goldmark ab. 1899 erwarb dann der Geheime Kommerzienrat Wessel das Grundstück. Für 300.000 Goldmark baute F. H. Sehwechten die großzügige Villa. In der ersten Zeit wurde die Villa meist als Zweit- und Sommerwohnsitz genutzt. 1908 schied Wessel aus dem Berufsleben aus und der erste Wohnsitz der Familie wurde Bad Harzburg.


Darüber hinaus befand sich ein Versorgungsgebäude für die Villa befand in der Bismarckstraße, ein Bauernhof mit drei Milchkühen und allerlei Kleingetier. In Anbetracht der bewaldeten Umgebung entschied sich Sehwechten für einen ländlichen Bau, der verputzte Flächen mit Natursteinen zueinander in Beziehung setzt und dem steinernen Unterbau eine fachwerkstrukturierte Haube in Form verbohlter Giebelfenster aufstülpt.

Die Dächer sind in Schiefer gedeckt. Erkennungszeichen des Hauses ist der hochaufragende Turm mit seiner Fachwerkbekrönung und der abschließenden Laterne, die als Aussichtspunkt dient.

Das Grundstück ist seit Beginn von einem hohen, schmiedeeisernen Zaun umgeben. Auf den beiden Eingängen zur Amsbergstraße thront jeweils ein Bär, das Symbol und Wappentier der Stadt Bernburg, dessen Ehrenbürger Carl Wessel ja gewesen ist.

Nach dem Tode Carl Wessels im Jahr 1912 bewohnte seine Ehefrau Berta die Villa bis zu ihrem Tode 1929 mit ihrem Personal allein. Von 1930 bis 1941 stand die Villa leer.




Ansichtskarte der Villa Wessel von der Amsbergstraße aus gesehen, um 1910
Die Villa Wessel von der Amsbergstraße aus gesehen, um 1910

Fotografie des Architekten Franz Schwechten
Rückansicht der Villa Wessel, 1905
© (NLA WO 12 Neu 13 Nr. 5788)


Verwundete werden ins Lazarett nach Bad Harzburg gebracht
Verwundete werden ins Lazarett nach Bad Harzburg gebracht

Fotografie des Architekten Franz Schwechten
Rückansicht der Villa Wessel, 1905
© Staatsarchiv Goslar (NLA WO 12 Neu 13 Nr. 5788)

Im Zweiten Weltkrieg

Gleich zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde Bad Harzburg wegen seiner zahlreichen großen Hotels Lazarettstadt. Das bedeutete, dass alle großen Häuser für diesen Zweck beschlagnahmt und mit verletzten Soldaten belegt wurden. 1941 erwarb das Land Braunschweig die leerstehende Villa Wessel mit Grundstück, um sie ebenfalls als Lazarett zu verwenden. Der Staat erhielt außerdem ein 1893 erbautes, daneben liegendes kleines Haus mit Waschküche.

Eine besondere Lebens- und Leidensgeschichte ist in dieser Zeit mit der Villa Wessel verbunden, nämlich die des erst 20-Jährigen Soldaten Heinz Gondlach. In seiner Gefangenenpersonalakte des Strafgefängnisses in Wolfenbüttel ist als letzter Wohnsitz vor seiner Verhaftung „Res.Lazarett Harzburg – Abtlg. Wessel“, also die heutige Schule angegeben. Die Lebensgeschichte von Heinz Gondlach wurde von Schüler*innen des NIG im Seminarfach erforscht und 2009 in einer Ausstellung, die im Bad Harzburger Rathaus gezeigt wurde, präsentiert.

Wegen dieser besonderen Verbindung mit der Villa Wessel und der Schule sei die Lebensgeschichte von Heinz Gondlach hier ausführlich wiedergegeben.

Heinz Gondlach

„Einmal Fernfahrer zu werden“, bezeichnete Heinz Gondlach als den größten Wunsch seines Lebens, als er im August 1941 im Jugendgefängnis Marienschloss einen umfangreichen Fragebogen zu seinen Einstellungen und Kenntnissen beantworten musste. Dieser Lebenswunsch wurde vom nationalsozialistischen Staat und vom Krieg durchkreuzt. Am 22. Dezember 1943 wurde Heinz Gondlach um 18:33 Uhr im Alter von 20 Jahren in Wolfenbüttel hingerichtet.


Heinz Gondlach war am 20. Juli 1923 in Leimbach (Mansfeld) geboren worden und dort in einer Familie mit elf Geschwistern, von denen jedoch zwei früh gestorben waren, aufgewachsen. In Leimbach besuchte er die Volksschule, allerdings wurde er mit 11 Jahren nach einem Diebstahl aus der Familie genommen und bis zum 14. Lebensjahr im Landeserziehungsheim in Nordhausen in Fürsorgeerziehung zur Strafverbüßung untergebracht. Das dort erstellte psychiatrische Gutachten fiel für Heinz Gondlach äußerst ungünstig aus, attestierte ihm „ausgeprägte psychopathische Veranlagung mit starken Stimmungsschwankungen und Neigung zu Roheiten [sic!]. Schwachsinn mäßigen Grades.“ Im Widerspruch zu dieser Einschätzung steht das Entlassungszeugnis der Heimschule. Dort findet sich eine „3“ in „Fleiß u. Aufmerksamkeit, Betragen, Religion, Deutsch mündl. und schriftlich, Lesen, Schreiben, Zeichnen, Singen. […] Rechnen ‚4’, Raumlehre, Erdkunde, Naturk. ‚2/3’, Turnen ‚1’“. So wurde er nach Ende der Schulzeit auch aus dem Heim mit der Einschätzung entlassen, dass „Gondlach genügend gereift wäre.“ Die begonnene Stigmatisierung als einer Person, die nicht zur sog. „Volksgemeinschaft“ passte, setzte sich aber später fort

Nach seiner Entlassung 1938 – dem Jahr, in dem auch sein Vater starb – arbeitete Heinz Gondlach für zwei Jahre in einer Silberhütte, kündigte aber, weil er Fernfahrer werden wollte und ging wechselnden Beschäftigungen nach, blieb schließlich aber der Arbeit fern, was zu heftigen Konflikten in der Familie führte, bei denen auch die Polizei eingeschaltet wurde. Schon zwei Wochen zuvor hatte Heinz Gondlach seinem Bruder 2 Mark aus dem Mantel gestohlen. Da er nun ohne Bleibe war, versuchte er des Nachts in das HJ-Heim im selben Hause einzusteigen, zerschlug dabei eine Fensterscheibe und einem wach gewordenen blinden Rentner, der im Haus wohnte, drohte er Schläge an, wenn der keine Ruhe gebe.

Das Amtsgericht in Eisleben verurteilte ihn daraufhin im Juli 1941 nach dreimonatiger Untersuchungshaft zu insgesamt einem Jahr Gefängnis: vier Monate wegen schweren Diebstahls, vier Monate wegen Arbeitsvertragsbruchs, drei Monate wegen Sachbeschädigung und zwei Monate wegen Nötigung. Obwohl bei Begehung der Tat erst 17 Jahre alt, wurde er auf der Grundlage der „Verordnung zum Schutz gegen jugendliche Schwerverbrecher“ vom 4.10.1939 nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilt. Zuvor hatte ein Gutachter bestätigt, dass Heinz Gondlach „seiner geistigen und sittlichen Entwicklung nach einer über 18 Jahre alten Person gleich zu stellen“ sei. Das Urteil entspricht der Tendenz der nationalsozialistischen Gesetzgebung und der entsprechenden Spruchpraxis zu immer weiterer Strafverschärfung. Die Stigmatisierung wurde fortgesetzt, indem er im Urteil als „eine von Jugend auf verbrecherisch veranlagte Persönlichkeit“ bezeichnet wird.

Die Strafe verbüßte Heinz Gondlach im Jugendgefängnis Marienschloss (Hessen). Er hatte die Hoffnung, nach der Entlassung zu seiner Mutter zurückkehren zu können und dort Arbeit zu finden. In seiner Entlassungsanzeige empfahl das Gefängnis aber: „Für seine weitere Erziehung ist alsbaldige Einberufung zum Arbeitsdienst oder zur Wehrmacht dringend zu wünschen.“ Als er am 29. April 1942 aus der Haft entlassen wurde, lag bereits die Einberufung zum Mai 1942 vor.

Nach einer kurzen Ausbildung wurde Heinz Gondlach an die Ostfront verlegt und wurde schon bald verwundet, sodass er von Dezember 1942 bis Januar 1943 mehr als einen Monat in unterschiedlichen Lazaretten in Kiew, Przemysl und Beuthen verbrachte. Mit der Einlieferung ins Lazarett am 13.12.1942 wurde er auch zum Obergrenadier befördert. Nach der Genesung wurde er wieder im Krieg eingesetzt und abermals verwundet. Nach Aufenthalt im Reservelazarett in Krakau seit Ende Mai wurde er dann am 14. Juni 1943 im Reservelazarett Bad Harzburg, Abteilung Wessel, eingeliefert. Eine der Verletzungen muss eine Schusswunde gewesen sein, da bei der Aufnahmeuntersuchung im Untersuchungsgefängnis in Braunschweig im November als besonderes Kennzeichen eine Schussnarbe am linken Oberarm vermerkt wurde.

In Bad Harzburg muss Heinz Gondlach sich dann zum Desertieren entschlossen haben. Die Wehrmachts-Auskunftsstelle gibt ab dem 29. Juli die Unterbringung in Untersuchungshaft an. Diese ist zunächst in der Standortarrestanstalt in Goslar vollstreckt worden. Von dort gelang ihm noch einmal die Flucht, bevor Kriegsgerichtsrat Hugo Biel um die Aufnahme in die U-Haftanstalt in Braunschweig ersuchte, der der Erste Staatsanwalt Dr. Hirte am 22.11. zustimmte.

Für das Aufnahmeersuchen in die U-Haft hatte Kriegsgerichtsrat Biel am 18. November notiert: Es „ist mit Todesstrafe zu rechnen.“ Bereits am 23. November fand die Verhandlung gegen Heinz Gondlach vor dem Gericht der Division 471 in Braunschweig statt. Die Gerichtsunterlagen selbst konnten nicht aufgefunden werden. Es kann aber angesichts der Notiz von Kriegsgerichtsrat Biel bezweifelt werden, dass Heinz Gondlach eine echte Chance auf eine faire Verhandlung hatte, auch wenn ihm Rechtsanwalt Fischer als Verteidiger zugeordnet worden war. Dabei hatten die Richter durchaus einen Ermessensspielraum. § 70 des Militärstrafgesetzbuches vom 10.10.1940 sieht bei Fahnenflucht „im Feld“ oder im besonders schweren Fall Todesstrafe oder „lebenslanges oder zeitiges Zuchthaus vor.“ Die „Richtlinien des Führers und Obersten Befehlshabers der Wehrmacht für die Strafzumessung bei Fahnenflucht vom 14. April 1940“ sahen vor: „Eine Zuchthausstrafe wird in diesen Fällen im allgemeinen als ausreichende Sühne anzusehen sein, wenn jugendliche Unüberlegtheit, falsche dienstliche Behandlung, schwierige häusliche Verhältnisse oder andere nicht unehrenhafte Beweggründe für den Täter hauptsächlich bestimmend waren.“ Für Heinz Gondlach hatte das Gericht offensichtlich solche Beweggründe nicht anerkannt, dabei wird seine Vorgeschichte eine wichtige Rolle gespielt haben. Ohnehin aber kann ab 1943 von der regelmäßigen Anwendung der Todesstrafe bei Fahnenflucht ausgegangen werden.

In einer Verfügung vom 17. Dezember legte Kriegsgerichtsrat Biel die organisatorischen Einzelheiten der Vollstreckung für den 22. Dezember fest. Er selbst leitete die Vollstreckung. Am Hinrichtungstag sollte Heinz Gondlach um 15:30 Uhr gefesselt in einem geschlossenen PKW vom Untersuchungsgefängnis in das Strafgefängnis Wolfenbüttel überführt werden. Um 16:30 Uhr sollten ihm die Urteilsbestätigung, Vollstreckungsanordnung und Ablehnung des Gnadenerweises bekannt gegeben werden. Vorschriftsgemäß wurde Stabsarzt Dr. Becker zur Teilnahme an der Vollstreckung aufgefordert, die Anwesenheit des Standortgeistlichen Pastor Barg wurde erbeten.

Heinz Gondlachs jüngere Schwester berichtet in einem Brief vom Mai 2012 an die Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel, dass ihrer Mutter die Nachricht vom Tod ihres Sohnes an Weihnachten 1943 in einem amtlichen Schreiben übermittelt worden sei, und zwar mit den Worten: „Auf dem Felde der Unehre gefallen … Anzeigen in Zeitungen sind verboten.“ Ein Brief ihres Bruders, in dem er die Mutter um Verzeihung bat, hätte beigelegen. Auch ein Pfarrer hätte einige Zeilen hinzugefügt: „Sein Sterben war besser als manches in seinem Leben.“ Über ihre Erinnerungen schreibt die Schwester: „Diese Bruchstücke aus den Schreiben waren so unfassbar, dass ich sie bis heute nicht vergessen habe.“

Im Jahr 2009 zeigten Schüler*innen des NIG eine Ausstellung zu Heinz Gondlach, die sie im Seminarfach mit viel Engagement erarbeitet hatten. Der evangelische Pfarrer Dietrich Kuessner mahnte in seiner Rede zur Ausstellungseröffnung: „Ich habe beim Lesen der Dokumente dieser lohnenden und wichtigen Ausstellung, der ich viele Besucher wünsche, wieder die Erkenntnis bei mir vertieft: Niemals Gefolgschaft, hinter keinem Bischof, keinem Lehrer, keinem Beamten, keinem Industrieboss – niemals ihnen folgen, schon gar nicht im blinden Gehorsam, sondern auf die innere Uhr hören, die einem schon sagt, wie es richtig weitergeht.“




Das Grab von Heinz Gondlach auf dem Wolfenbütteler Friedhof im Jahr 2009
Das Grab von Heinz Gondlach auf dem Wolfenbütteler Friedhof im Jahr 2009

Das ehemalige Hinrichtungsgebäude im Strafgefängnis Wolfenbüttel, in dem Heinz Gondlach getötet wurde
Das ehemalige Hinrichtungsgebäude im Strafgefängnis Wolfenbüttel, in dem Heinz Gondlach getötet wurde
Artikel Die Goslarsche Zeitung berichtet über die Ausstellung der NIG-Schüler*innen zu Heinz Gondlach
Die Goslarsche Zeitung berichtet über die Ausstellung der NIG-Schüler*innen zu Heinz Gondlach
© Goslarsche Zeitung, 2009

Die Geschichte des NIG

Nach dem Zweiten Weltkrieg gingen die Grundstücke mit Anwesen zunächst an den braunschweigischen, dann an den niedersächsischen Staat über, der sie nun als Ausbildungsstätte nutzte. Gegründet am 6. Mai 1946, sollte die Volksoberschule – so ihr erster Name – Schülerinnen auf das Studium an der Kant-Hochschule in Braunschweig vorbereiten.


Auf Veranlassung der ersten Landesregierung wurde Dr. Mischke vom damaligen Leiter der Kant-Hochschule mit dem Aufbau der Leitung der Volksoberschule beauftragt. Frau Dr. Wittlake, Frau Dr. Schidewski und Frau Hering als Heimleiterin wurden mit ins Boot geholt. Eine schwierige Aufgabe, da damals das Haupthaus von Flüchtlingen belegt war und die Versorgungsprobleme, Heizung und Ernährung, den Lernmittelmangel noch übertrafen – sie konnten nur im damals üblichen Tauschhandel von Schülerinnen und Lehrern bewältigt werden. Die Schule als Heim für Schülerinnen, das gehörte von Anfang an zur Konzeption, 12 Mädchen wohnten damals äußerst beengt in einem Raum mit Doppelbetten übereinander. Als Dr. Carl Pfeffer, früher Studienrat an der hiesigen Oberschule für Jungen, als Pensionär 1947 noch kurz vor seinem Tod die Leitung der Schule übernahm, wurden auch bereits die ersten Prüfungen abgelegt, die die Absolventinnen zur Aufnahme eines Lehrerstudiums berechtigten. Integriert war von 1949 an auch eine Abteilung, die das Fach Hauswirtschaft anbot.

Dr. Karl Mielke leitete die Schule von 1948 bis 1950, sie hieß nun Aufbauschule und hatte mittlerweile 30 Schülerinnen – die meisten aus Flüchtlingsfamilien aus der Umgebung. In den Jahren 1949/50 wurden die Gebäude, die ehemalige Villa Wessel als Haupthaus und die ehemalige Villa Vogeler, das heutige Nebenhaus, baulich miteinander verbunden.

Am 1. April 1951 wurde die Staatliche Heimschule für Mädchen in das Verzeichnis für höhere Schulen aufgenommen. Somit konnten jetzt Reifeprüfungen abgenommen werden. Von Anfang an gehörten die künstlerischen und musischen Aktivitäten - wie Zeichnen, Malen, Musizieren bis zur schmückenden Ausgestaltung von Räumen und Festen - zum Lern- und Freizeitrepertoire der Schule. 1955 kam noch ein weiteres Gebäude zum bestehenden Schultrakt hinzu – die ehemalige Villa des Staßfurter Fabrikanten Paul Hecker, das heutige Verwaltungsgebäude.

Weitere Räume konnten gewonnen werden, als der Sägewerksbesitzer Heinrich Klages die Grundstücke Amsbergstraße 14 und 16 auf der gegenüberliegenden Straßenseite an die Schule verkaufte. Sie wurden später zu Wohnungen für die Schülerinnen ausgebaut.

Dr. Carl Mielke wurde als Oberstudiendirektor nach Bad Gandersheim versetzt, seine Nachfolgerin bis 1959 wurde Frau Dr. Anneliese Lehnhoff - die dann wiederum als Oberschulrätin nach Hannover ging. Oberstudiendirektorin Ruth Gieseler übernahm ihre Nachfolge und blieb 19 Jahre lang Leiterin der Schule.

1960 wurde der bestehende Zwischenbau vergrößert, um mehr Platz für eine geräumige Aula zu schaffen. 1966/67 kam als Neubau das Mädchenheim dazu. Die ersten Jungen wurden schließlich 1972 aufgenommen und brachten die Umwandlung in eine gemischte Heimschule. Durch die Erweiterungsbauten konnten jetzt ca. 200 Schülerinnen und Schüler unterrichtet werden. Seit Anfang der 1970er Jahre besteht eine Kooperation mit dem Werner-von-Siemens­Gymnasium.

1979 wurde Jürgen Krolow neuer Schulleiter. 1980 gab es wieder einen neuen Namen für die Schule: Niedersächsisches Internatsgymnasium B. H. (NIG). Seit 1987 ist das Gebäude der Villa Wessel in die Denkmalliste des Landes Niedersachsen aufgenommen. In den folgenden Jahren wurde ein Sportplatz errichtet, und die Räume wurden renoviert. Immer mehr Tagesschüler besuchten das NIG.



Ansichtskarte der Heimschule in den 1950er Jahren
Ansichtskarte der Heimschule in den 1950er Jahren
Ansichtskarte der Heimschule mit dem neuerbauten Schulgebäude, um 1950
Ansichtskarte der Heimschule mit dem neuerbauten Schulgebäude, um 1950
Alte Häuser in den 1960er Jahren, wo heute das Mädcheninternat steht
Alte Häuser in den 1960er Jahren, wo heute das Mädcheninternat steht
 
Das Lehrerkollegium der Heimschule in den 1950er Jahren
Das Lehrerkollegium der Heimschule in den 1950er Jahren
Das heutige Verwaltungsgebäude, die ehemalige Villa von Paul Hecker, in den 1960er Jahren – damals noch mit Turmspitze und Dachterrasse
Das heutige Verwaltungsgebäude, die ehemalige Villa von Paul Hecker, in den 1960er Jahren – damals noch mit Turmspitze und Dachterrasse
Der Bau des neuen Mädcheninternats in den 1960er Jahren
Der Bau des neuen Mädcheninternats in den 1960er Jahren
Fußnoten und Bildhinweise

1 Große Teile des Textes sind – teils verändert – der reich bebilderten Broschüre „Villa Wessel. Zur Baugeschichte des Haupthauses im niedersächsischen Internatsgymnasium Bad Harzburg“, hrsg. Förderverein des NIG, Bad Harzburg 2008 entnommen. Die Broschüre kann über die Schule oder im Sonnenhof, Waldstraße 9, 38667 Bad Harzburg erworben werden.

2 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Wessel.

Alle Fotos —wo nicht anderslautend angegeben— entstammen der privaten Sammlung von Herrn Markus Weber oder aus dem Bildarchiv des NIG Bad Harzburg.

Artikel über die feierliche Enthüllung der Stele am NIG

Artikel über die feierliche Enthüllung der Stele am NIG
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